Nach den ersten zwei, drei Stunden von Anno 1800 war ich mir nicht ganz sicher, wie ich dieses Spiel bewerten soll, denn mit Anno 1800 veröffentlichen Blue Byte und Ubisoft den mittlerweile siebten Teil der erfolgreichen Städtebau-Simulation – kann da das Konzept der s.g. „City-Builder“ überhaupt noch überraschen? Der Anfang der Kampagne, die in Wahrheit als Tutorial dient, präsentiert sich beinahe schon zu einfach, vermittelt stufenweise immer komplexere Mechaniken und hält mit der wahren Wucht noch zurück: das komplexe Multitasking. Ich sag’s frei heraus: Anno 1800 hat den Thron des Genres erobert.
Eure Aufgabe ist es, den technologisch-soziokulturellen Wandel des westlichen Europas im 19. Jahrhundert zu meistern und florierende Siedlungen auf- und diese zu Städten auszubauen. Ihr fangt dabei klassisch mit Holzfällern und Sägewerk, Schaffarmen und Schneiderei an, und hört auf beim Eisenbahnverkehr und Elektrizitätswerk.
Um das zu erreichen, beginnt ihr in bekannter Genre-Manier Wohnhäuser zu bauen, um Arbeitskraft bereitzustellen, um dann Produktionsgebäude wie eine Schweinezucht und Metzgerei zu bauen, deren Erzeugnisse dann die Bedürfnisse eurer Einwohner befriedigen. Produziert ihr genug Waren und stellt genug Dienstleistungen, wie z.B. eine Schenke, bereit, entwickeln sich eure Einwohner kulturell und technologisch weiter – sie bekommen neue, teils luxuriöse Bedürfnisse, sind aber gleichzeitig fähig in höher technologisierter Industrie zu arbeiten. Das wiederholt sich und beschreibt knapp den Ablauf eines jeden Anno-Spiels seit jeher. Und ja, sozialer Aufstieg durch Fest und Spiele und Bier… dem subtilen Humor ist sich das Spiel durchaus bewusst! So kann man auch einem schmierigen Journalisten etwas Geld für wohlwollende Artikel zukommen lassen, was euch dann gewisse Buffs schenkt, aber etwas Vertrauen bei der Bevölkerung kostet.
Der Clou an der Sache ist das bereits angesprochene Multitasking. Es passieren so viele Dinge parallel, die gleichzeitig gehandhabt werden müssen, was den Spieler zwar nicht überfordert, euch aber – und das ist das Wichtigste einer jeden Gameplay-Schleife – bei Laune hält! Euch wird somit nie langweilig, denn überall gibt es was zu tun, an kleinen Stellschrauben, wie z.B. an der Effizienz eurer Warenwege auf dem Land zu drehen, oder große Vorhaben wie eine ausgeklügelte Handelsroute zwischen mehreren Inseln zu planen und durchzuführen. Und sobald ihr mehr als eine Insel besiedelt, jede dabei mit ihrem eigenen Ressourcen-Vorrat, kann es passieren, dass ein Feuer auf einer Insel ausbricht, während ihr euch gerade noch Gedanken über die Platzierung von Zier-Bäumen macht, mit der ihr die andere Siedlung aufhübschen wollt. Dann stellt ihr fest, dass ihr völlig vergessen habt, eine Feuerwache zu bauen, schnell einen Platz für diese sucht und hofft, dass eure Feuerwehr auch schnell genug ausgebildet wird, bevor das Feuer umgreift, die Hälfte eurer Gebäude erfasst und die ersten nur noch einen Haufen Asche sind.
Habt ihr das eine Übel abgewendet und wendet euch gerade wieder dem Aufbau einer unterentwickelten oder gar zerstörten Siedlung zu, greifen Piraten eure Handelsroute an und verhindern die Lieferungen der Luxusgüter, die wegen der nötigen Rohstoffe auf anderen Inseln für die feine Gesellschaft produziert wird. Und auf ihren Champagner zu verzichten, findet die natürlich überhaupt nicht cool…
Zusätzlich zur „Alten Welt“ bietet Anno 1800 auch ein Pendent zum Orient (s. Anno 1404) mit seinen eigenen, exklusiven Waren und Einwohnern. Der Orient wird hier durch die Neue Welt ersetzt, und diese steht mit ihrer üppigen Vegetation wie dichten Palmen und saftigen, hohen Gräsern im starken Kontrast zu den Backsteingebäuden, die schwarzen Qualm aus ihren Schornsteinen werfen.
Und wer keine Lust hat alleine zu spielen, kann sich im Mehrspielermodus mit anderen Spielern messen. Momentan gibt es zwar noch keinen Ko-Op-Modus, bei dem man gemeinsam auf Inseln bauen darf. Den hat Ubisoft aber versprochen nachzuliefern.
Fazit: Anno 1800 ist eine absolut hochwertige Strategie-Erfahrung, die ich jedem Veteranen aber auch Neuling empfehlen kann. Leichte Schwierigkeitsgrade sind außerdem für diejenigen verfügbar, die eher auf die vielen, liebevollen Details achten wollen, ohne von der Gegner-KI überwältigt zu werden.